Sehr geehrter Herr Wüst
Aufmerksam geworden auf Ihren Artikel im Spiegel, möchte ich mich als technischer Berater der „Initiative Bodensee-S-Bahn“ äussern. Ich habe den Spiegel am Kiosk gekauft und auch Ihre Video-Präsentation angesehen.

Die Video-Präsentation scheint mir ziemlich polemisch zu sein. Sie hält einer fachlichen Würdigung kaum stand. Mit Ihrer Kombination von alten Stellwerken mit dem alten Bahnhof ist nicht zulässig. Bei einem Ausbau des Inselbahnhofes würden selbstverständlich moderne elektronische Stellwerke installiert. Gleich wie beim Bau des Bahnhofes auf dem Festland.


Projekt Lindau 21
Die Geschichte „Bahnhof Lindau“ ist tatsächlich alt, nämlich gleich alt wie „Stuttgart 21“. Und dort kennen Sie ja wohl das Resultat. Ein sündhaft teurer, unterirdischer Bahnhof, dessen Leistungsfähigkeit kleiner sein wird als diejenige des heutigen Kopfbahnhofes. Vor allem deshalb, weil die Zufahrtslinien nicht mehr über die gleiche Anzahl von Gleisen verfügen, keine sog. „Überwerfungen“ (niveaufreie Kreuzungen) vorhanden sind, etc..

Ich nehme an, dass Sie auch darüber informiert sind, dass der neue Bahnhof Stuttgart in einer Neigung von 17 Promille liegen wird. Eine Neigung, die es auf der ganzen Welt nirgends für Bahnhöfe gibt – ausser für kleine und unbedeutende Haltestellen.


„Frankfurt 21“, „München 21“ gestorben
Und Sie wissen ja auch. dass die Geschichten in Stuttgart, Frankfurt, Lindau und München gleichzeitig und auch gleichartig begannen. Der damalige DB-Vorstandsvorsitzende Heinz Dürr erzählte das Blaue vom Himmel über die Bahnhof-21-Projekte. Ausser Stuttgart haben sich glücklicherweise alle anderen Städte von diesen unseligen Projekten getrennt.


21-er-Projekte waren nie Bahnprojekte
Es waren nicht etwa Bahnfachleute, welche diese Projekte stemmen wollten, sondern bahnfremde, gierige Immobilienheinis, die in der ganzen Bundesrepublik sog. „überflüssige Gleisanlagen“ versilbern wollten. Und was „überflüssig“ war, bestimmten nicht etwa die Bahnfachleute, sondern einzig und allein die Immobilienhengste, die von der Bahn so viel wie nichts verstanden, weil sie ja nie mit der Bahn, sondern ausschliesslich mit Mercedes oder BMWs fuhren (und heute noch fahren).

Denn: diese Immobilienleute wollten/konnten/können auch heute diese Bahn nicht benutzen, denn sie ist ja infolge schlechter Qualität unbrauchbar. Viele notwendige Ausbauten wurden durch die unsinnigen 21-er-Projekte blockiert – wie zB in Lindau. (im Übrigen. Mit welchem Verkehrsmittel sind sie nach Venedig gefahren? Mit der Bahn?)


Leistungsfähigkeit von Bahnhöfen wird wesentlich durch die Zufahrten bestimmt
Die Situation in Lindau ist folgende: von Westen und Norden her führen vier Bahnlinien nach Lindau (von/nach Basel-Singen-Friedrichshafen, von/nach Ulm-Friedrichshafen, von/nach Memmingen-München, von/nach Kempten-München). Nach Osten existiert eine einzige Linie, diejenige nach Bregenz, die erst noch grenzüberschreitend und zZ teilweise noch einspurig ist. Die Bregenzer Bevölkerung wehrt sich mit Händen und Füssen gegen einen Doppelspurausbau … .

Also eine klar „unpaarige“ Verteilung. Da vernünftigerweise nicht alle Züge vom Westen und vom Norden weiter nach Bregenz verkehren können/werden/müssen, muss in Lindau-Reutin (in Ihrer „Minihaltestelle auf dem Festland“) der grösste Teil der deutschen Züge trotzdem „Kopf machen“, d.h. wieder umkehren. Dazu benötigt es eben acht Bahnsteigkanten – also gleich viele wie im Bahnhof auf der Insel vorhandenen sind.

Ohne diese Gleisanzahl wäre es unmöglich, in Reutin einen Knoten mit kurzen Umsteigezeiten und -möglichkeiten von allen Zügen auf alle einzurichten. Ihre „Minihaltestelle“ (und auch diejenige von Herr Professor Rothfuss) müsste also acht Gleiskanten aufweisen, d.h. dieselbe Zahl wie auf der Insel. Ein ziemlich grosser Bahnhof (Kosten: deutlich über 150-200 Millionen Euro).

Und dieser neue Bahnhof müsste neu als Kopfbahnhof ausgebildet werden – das soll noch einer verstehen. Hinzu kommt der grosse Nachteil, dass sich die Züge vom Westen her auf der zZ nur einspurigen Schlaufe zwischen Lindau-Aeschach und Lindau-Reutin gegenseitig in die Quere kommen würden. Ich glaube, Ihnen nicht erklären zu müssen, welche Nachteile einspurige Linien haben.

Deshalb verlangt der Herr Professor aus Tübingen auch den Ausbau der Verbindungsschlaufe auf Doppelspur, mitten durch die Wohngebiete von Lindau. Auf dieser Verbindungsschlaufe würden alle Züge vom Westen und Norden her zweimal verkehren. Der Professor aus Tübingen will also eine sehr leistungsfähige, vierspurige Zu- und Wegfahrt durch eine nur noch zweispurige Zu- und Wegfahrt ersetzen. Völlig sinnlos und unerklärlich.

Die Strecke Aeschach – Lindau-Reutin ist im Übrigen etwa gleich lang wie die Strecke Aeschach – Inselbahnhof. Also bietet der Bahnhof auf dem Festland überhaupt keine Vorteile, weder betriebliche noch km-mässig.


Bodensee-S-Bahn
Das Konzept der Bodensee-S-Bahn sieht vor, dass der Personen-Bahnhof auf der Insel Lindau inkl. vierspuriger Zufahrten mehr oder weniger im heutigen Bestand erhalten werden (sieben bis acht Gleiskanten, ein Teil davon 400 Meter lang für Fernzüge). Bau einer S-Bahn-Haltestelle Lindau-Reutin mit zwei oder drei Bahnsteigkanten, an welchen auch die EC Zürich-München halten können. Im Inselbahnhof wird ein exakter Knoten zwischen Fern und Nahverkehrszügen eingerichtet.


Kostengünstigere Lösung
Es ist einleuchtend, dass die Aufrüstung und Sanierung des bestehenden Inselbahnhofes und die Einrichtung eines bescheidenen neuen Haltepunktes in Reutin günstiger zu bewerkstelligen ist, als der Bau eines neuen, achtgleisigen Kopfbahnhofes in Reutin.

Ich würde mich freuen, wenn der Spiegel einen zweiten, etwas sachlicheren und neutraleren Artikel veröffentlichen würde. Vielleicht könne wir uns einmal treffen (zwischen Venedig und Lindau)

Mit freundlichen Grüssen
Paul Stopper
Dipl. Ing. ETHZ / Verkehrsplaner